07.10.2024
Berlin, 07. Oktober 2024 – Der 7. Oktober 2023 war ein Schabbat an dessen Ende in der Diaspora der Vorabend für Simchat Tora, das Torafreudenfest, im Kalender stand. Ein sehr fröhlicher Festtag an dem die letzten Verse des 5 . Buches Moses gelesen werden und gleich anschließend, die ersten Verse des 1. Buches Moses, also die Schöpfungsgeschichte. Alle Torarollen werden aus dem Toraschrank gehoben und in sieben fröhlichen Umzügen mit den Kindern der Gemeinde entweder durch die Synagoge oder um die Synagoge herum getragen.
Als mein Radiowecker mich am 7. Oktober aufweckte hörte ich in den 7 Uhr Nachrichten von einem Terroranschlag auf ein Musikfestival in Re’im, einem Ort in Israel nahe am Gazastreifen. Im Laufe des Tages wurde zwar nicht der ganze Umfang des Massakers klar, aber doch, dass das ein unvergleichliches Terrorereignis war – an der Grenze zu Gaza, aber durch die große Zahl an gleichzeitigen Raketenangriffen auch im ganzen Land
• kein Simchat Tora,
• kein Torafreudenfest,
• keinTag zum Jubeln oder Feiern.
Aber doch, wie auch in der schweren Zeit nach 1933, solange Synagogen stehen und eine Gemeinde funktioniert, gilt es die jüdische Traditionen zu bewahren, den Feinden nicht das Bestimmungsrecht über jüdische Feiertage einzuräumen, also in der Synagoge zusammenzukommen, um zu beten und Ende und Neuanfang der Schriftlesung liturgisch zu markieren. Also wurde der angesetzte Gottesdienst abgehalten, nicht gefeiert, alle freudigen Elemente auf das Minimale reduziert.
Und es begann ein Erschrecken, das über Tage kein Ende nahm, denn ein solches Massaker hat es nach der Schoa nicht gegeben. Schon am dritten Tag, also am Dienstag, haben wir im HOUSE OF ONE Imam Kadir Sanci. Pfarrer Gregor Hohberg und ich, zu einem Bittgebet für die Opfer eingeladen. Gekommen ist eine große Zahl von Muslimen, Christen und Juden, auch weitere Imame und Pfarrer, buddhistischen Glaubensgeschwistern und andere. Wir formulierten ein erstes Friedens- und Bittgebet für die Ermordeten, für die Verletzten und für die Entführten und für all die von diesem Massaker betroffenen Angehörigen.
Und es wurde deutlich: Es gab auch in Berlin Menschen, die diesen Grauen zum Anlass für Jubelfeiern nahmen, es gab ein lautes Schweigen vieler und es gab ein beherztes Miteinander von Geschwistern im Glauben. Meine Synagoge hat über Wochen jeden Montag ein solches Bittgebet abgehalten und durch direkten Kontakt mit Geiselverwandten einzelne Lebensläufe von den Entführten vorgestellt – und ja, Geschwister im Glauben sind gekommen, um mit uns zu beten: Beide Bischöfe waren da, aber auch vom Zentralrat Muslime.
Verwandte, Freunde kamen aus dem Urlaub oder Studienaufenthalt aus Israel zurück – und was der Bundeskanzler bei seiner Rückreise erlebt hat, sich wegen eines plötzlichen Luftangriffs bäuchlings auf die Landebahn legen zu müssen, erzählten andere auch, und dann die Berichte über Verletzte aus dem Familien- oder Freundeskreis, vom ständigen Luftalarm traumatisierte Kinder und schließlich die herzzerreißenden Berichte von Verwandten der Geiseln. Das ganze Land eine Klagemauer.
Und ja, leider sind jetzt 365 Tage vergangen und es gibt noch immer Geiseln, die auf ihre Befreiung warten –
und ja, an jedem Schabbat stellen wir eine Geisel mit ihrem Lebenslauf vor dem Gottesdienst vor –
und ja klar, wir beten für die Geiseln.
Und wir beten für alle Opfer, und wir beten für Frieden.
Und Frieden im Hebräischen hat eine besondere Bedeutung: Frieden – שלום - ist in der hebräischen Sprachwelt – nicht nur Frieden, der bis zur Grenze reicht – ein bis zum "Einfrieden" gedachter Zustand, sondern schließt auch immer diejenigen ein, die jenseits der Grenze leben, denn das himmlische Zelt des Friedens schützt nicht nur das diesseits der jeweiligen Grenze, sondern reicht herüber zum jenseits der jeweiligen Grenze. Wenn es also in unseren Gebeten heißt: „Schalom al Israel“, - Frieden für Israel - dann funktioniert das nur, wenn auch Frieden jenseits der Grenze herrscht.
Wie stelle ich mir also Frieden im Nahen Osten vor? Dass Grenzen zwischen Israel und allen seinen Nachbarn so bedeutungslos werden wie zwischen Deutschland und Luxemburg heute. Dass Gaza wieder dafür bekannt wird, Brücke zwischen Asien und Afrika zu sein. Dass wie im Mittelalter Muslime, Christen und Juden bei- und miteinander leben. In unserer heutigen Terminologie, dass Israelis und Palästinenser geschwisterlich miteinander wohnen, ja dass außer beim Gang in die Synagoge, in die Moschee oder Kirche Religion und Herkunft oder Nationalität keine Rolle spielen.
Ein Traum? Ein Wunder?
Ich denke an David ben Gurion mit seinem so trefflichen Zitat: „Wer in diesem Land nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist!“
In diesem Sinn bin ich ein jüdisch-gläubiger Realist!